Das Spiel der Polaritäten im Yoga

Polaritäten gehen immer in zwei Richtungen. Einerseits versuchen sie, sich aufzuheben. Andererseits verstärken sie sich gegenseitig. Diese zwei Richtungen erzeugen einen Druck, der sich umso mehr verstärkt, je weiter man in das eine oder andere Extrem der Polaritäten geht.
Für unseren Körper bedeutet dass, das wir eine natürliche Balance zwischen viel und wenig Polarität benötigen. Wenn wir akut krank werden, benötigen wir Sicherheit und Stabilität – also mehr Polarität. Wenn wir chronisch Krank werden, benötigen wir Offenheit und Vereinigung – also weniger oder gar keine Polarität.
In diesem Spannungsfeld sollten wir uns bewegen.

Der yogische Weg ist ein Weg der Disziplin. Das dürfte der Hauptunterschied zwischen Yoga und Tantra sein. Disziplin bedeutet, dass man sich in einen Zustand versetzt, der eigentlich unnatürlich ist, z. B. in eine Yoga-Haltung oder in eine Meditation. Oder indem bestimmte Rituale vollzogen werden, wie die morgendliche kalte Dusche (Ishnaan).

Der natürliche Impuls wird manipuliert. Nur die wenigsten würden sich frisch aus dem Bett für eine kalte Dusche entscheiden. Das wird getan, weil man sich mit Hilfe von Disziplin verbessern will. Du manipulierst dich selbst, auch aus der Erkenntnis heraus, dass du sowieso die ganze Zeit von äußeren Umständen manipuliert wirst. Dann kannst du dich auch gleich selber manipulieren.

Die äußeren Umstände lassen es nicht zu, dass wir uns natürlich entwickeln können. Wir leben ein Leben aus Kompromissen, ein Leben, dass die Möglichkeiten des Menschen nicht ausschöpft. Aus dieser Perspektive heraus ist es notwendig, mit Hilfe von Yoga in dieses Leben einzugreifen, und es auf eine bestimmte Art und Weise positiv zu formen. Dadurch wird der Druck der Zeit ausgehalten und die Aufgaben besser gemeistert.
Trotzdem bleibt Yoga eine Manipulation. Man geht in die Yoga-Haltung, die eigentlich nicht natürlich ist. Sie wird gehalten, der Druck wird ausgehalten. Das ist das eigentliche, wirksame Merkmal des yogischen Weges, das der Disziplin folgt, und ganz anders ist als der tantrische Weg. Du hältst den Druck aus. Und das ist eine elementare Grundlage des Yoga. Es versetzt einen in die Lage, die Anspannung und den Druck z. B. bei einer Yogaübung oder auch den Druck des eigenen Umfeldes standzuhalten. Dieses Aushalten macht die eigentliche Wirkung und Qualität aus, die durch die Yoga-Praxis entfaltet wird.

Der tantrische Weg ist ganz anders. Beim tantrischen Weg geht es nicht darum, irgendetwas auszuhalten. Es geht auch nicht darum, irgendeine Disziplin zu verfolgen.
Im Tantra wird den eigenen Impulsen gefolgt, den inneren Impulsen des Energieflusses, mental und körperlich. Dadurch kommt es zu einer reinigenden und klärenden Reaktion. Dadurch macht man sich unabhängig von äußeren Einflüssen und von Manipulationen und folgt statt dessen dem inneren Sog. Wenn man dabei auf einen Widerstand stößt, wird abgewartet, bis er sich auflöst. Falls das nicht geschieht wird nach einem anderen Weg gesucht, wie das Wasser, das sich um einen Stein schlängelt. In jedem Fall wird der Widerstand nicht ausgehalten oder ertragen, sondern du fließt mit dem Strom weiter.
Hier haben wir also den elementaren Unterschied zwischen diesen beiden Wegen.

Im Kundalini Yoga werden diese beiden Wege vereinigt.

Im Weißen Tantra Yoga wird zu zweit in eine Haltung hineingegangen und sie wird – ganz yogisch – gehalten. Die Anspannung und der Schmerz werden ertragen, trotzdem wird dadurch, dass die Übung zu zweit gemacht wird, auf tantrische Art und Weise ein Fluss erzeugt, eine Hingabe, ohne den die Übung nicht auszuhalten wäre. Es ist ein in-sich-hinein-fließen. Der andere trägt mit, was du ertragen musst. Die ganze Gruppe erträgt es mit, Weißes Tantra wird in Großgruppen praktiziert. Die Einzelperson überträgt die Anspannung auf die Gesamtgruppe. Dies wird durch die Art des Rituals ermöglicht, die Art und Weise wie die Menschen sitzen. Dies erzeugt einen Zusammenhalt, wie er durch ein Mandala, ein spirituelles Bildnis, zum Ausdruck kommt.
Durch den Fluss der Energie wird es möglich, die eigene Anspannung an die anderen aus der Gruppe zu übertragen und mit Hilfe der Anleiterin loszulassen. Dadurch wird es möglich, auf ganz neue Art und Weise in das eigene Unterbewusstsein hinein zu schauen und Sachen rauszuspülen und zu reinigen, die nicht mehr benötigt werden. Das ist die besondere Qualität des Weißen Tantra Yoga: die Möglichkeit, den Tantrischen Weg mit dem Yogischen Weg zu vereinigen.

Tantra: Osmose der Energien

Beim tantrischen Weg geht es nicht nur um Zulassen. Die eigentliche Bedeutung des Wortes Tantra ist „verweben“. Es geht um das Spiel der Polaritäten miteinander, den Energiefluss der Gegensätze. Letztendlich wird im Tantra eine Polarität erzeugt, die dafür sorgt, dass sich die Dinge so fügen, wie sie es am besten ist. Diese sehr alte Technik wurde schon vor vielen tausend Jahren in Indien praktiziert. Sie ist auch in anderen Kulturen bekannt, wenn auch in anderer Form. Der dahinter stehende Grundsatz besagt, dass sich die Polaritäten in einem geschlossenen System ausbalancieren.
Das ist etwas, was wissenschaftlich ausführlich in der Physik oder der Biologie erforscht wurde. Ein Beispiel ist die Zellmembran, die durch Osmose Zellen durchlässig macht und dafür sorgt, das Stoffe dorthin transportiert werden, wo sie benötigt werden. Dadurch, dass auf beiden Seiten der Membran unterschiedliche Aggregatzustände herrschen, können sie diese grundlegenden Körperfunktionen ausbalancieren. Man kann mit diesem Prinzip Energie erzeugen, es gibt inzwischen Kraftwerken – z. B. in Norwegen – die mit Osmose funktionieren. Ganz genau so funktioniert auch das menschliche Energiesystem, das über den Kontakt zwischen Menschen reagiert.
Wenn ich in eine bestimmte extreme Position gehe, erzeuge ich in den anderen einen Widerstand oder eine Gegenwehr. Der andere geht in das andere Extrem, er versucht mich auszubalancieren. Dies ist etwas, was häufig in Liebesbeziehungen passiert. Der eine Partner geht einen bestimmten Weg, zieht eine bestimmte Konsequenz und der andere Partner geht in die Gegenreaktion und versucht dadurch die Beziehung wieder in Balance zu bringen – auch wenn es sich erst mal wie das Gegenteil anfühlt.

Wenn man mit dem tantrischen Weg arbeitet, sollte man sich mit den Naturgesetz der Polarität auskennen.

Es ist möglich, Konflikte zu erzeugen, um die Balance in einer Gruppe wieder herzustellen.
Wenn es einen Konflikt gibt, der unter der Oberfläche schlummert und dort destruktiv wirkt, besteht die Möglichkeit, Heilung zu erzeugen, ohne den eigentlichen Konflikt anzuschauen oder zu erkennen. Mit Hilfe von tantrischer Technologie kann ein offener Konflikt eine Gegenreaktion provozieren, die dann eine Heilung ermöglicht.
Das ist dann so, als würde man eine eitrige Wunde aufschneiden, damit der Eiter abfließen kann. Dieser Vorgang des Schnittes ist ein gewalttätiger Akt, der aber nötig ist, um den Eiter, der unter der Haut liegt, zum Abfließen zu bringen. Genau so kann es auch in Gruppen oder Partnerschaften funktionieren. Durch den Konflikt können sich Anspannungen lösen, die ohne diesen Konflikt nicht möglich wäre. Aus diesem Grund scheitern Menschen, die immer nur nach Harmonie suchen, oder die immer nur versuchen, dass „Gute“ zu erzeugen. Damit negieren sie das tantrische Gesetz, dass immer nur dann Licht entstehen kann, wenn es auch Schatten gibt.

Genau so arbeitet das Kundalini Yoga mit tantrischen Techniken. Du gehst in das eine Extrem, um ein anderes Extrem zu erzeugen. Du gehst in die Anspannung, um dich zu entspannen. In der Politik wäre es so, dass man eine extreme Haltung vertritt, um das andere Extrem zu erzeugen.
Wenn männliche und weibliche Energien zusammen kommen, dann balancieren sie sich aus. Es entsteht etwas Gemeinsames. Es entsteht etwas Neues, was für jeden allein genommen nicht möglich wäre.

Der Yogi versucht, nicht in die Polarität zu gehen. Er strebt nicht danach, sich auf eine Seite festzulegen. Männer- und Frauen-Energien spielen aus yogischer Sicht erst mal keine Rolle, die Übungen funktionieren für beide. Im Kundalini Yoga gibt es einzelne Übungen speziell für Männer oder Frauen, wenn die tantrischen Energien mit einbezogen werden soll. Aber der yogische Weg an sich ist ein geschlechtsneutraler Weg. Die innere Haltung ist die der Neutralität.

Für das Yoga ist der neutrale Geist sehr wichtig, der sogenannte vierte energetische Körper.

Er steht über den beiden polaren Geistkörpern, dem negativen und positiven Geist, die oftmals als ein Engelchen und ein Teufelchen dargestellt werden. Der negative Geist warnt vor Problemen, der positive Geist unterstützt die eigene Projektion. Der neutrale Geist wiederum lässt sich weder von dem einen noch dem anderen Eindruck beeinflussen. Er schaut sich lediglich alles an. Das ist der entscheidende Punkt: Hingucken, offen sein, aushalten, aber nicht in die eine oder andere Position gehen. Der Verstand bleibt neutral und aus dieser Neutralität heraus werden Entscheidungen getroffen. Aus dieser inneren Haltung heraus bleibt man in einer Position, aus der du die Dinge aushalten und ertragen kannst. Dein Körper, dein Umfeld oder was auch immer schwingt vielleicht in die eine oder in die andere Richtung, aber du bleibst stabil. Durch dieses Aushalten löst du die Anspannung und Widerstände auf.
Du hältst aus, was passiert. Du versuchst nicht in die eine oder die andere Seite einzugreifen. Du schwimmst nicht mit dem Fluss.
Du hältst aus und dadurch, dass du aushältst können neue Ebenen entstehen, neue Dimensionen auftauchen, die vorher nicht sichtbar waren. Das ist der Weg des Yogis.

Textauszug aus dem Yoga Infos Basistext Nr. 24 "Weibliche und männliche Polaritäten"

 

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